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MDR/IVDR: Die Bodyguards für Medizinprodukte

Schon seit ihrer Verabschiedung 2017 sorgt die MDR und IVDR für Diskussionen. Die Verordnung für Medizinprodukte beziehungsweise Verordnung für In-vitro-Diagnostika in Europa hat das Ziel, die Sicherheit und Qualität von Medizinprodukten für Patienten zu verbessern.

Dazu wurden die Anforderungen an die Zulassung, Überwachung und Rückverfolgbarkeit verschärft. Doch was als zeitgemäße Regelung und Reaktion auf Fehlentwicklungen der Vergangenheit die Medizinprodukterichtlinie MDD ablösen sollte, scheiterte bis dato an der Umsetzung.

Auf der einen Seite fehlte es an benannten Stellen, die nach MDR zertifizieren dürfen, auf der anderen rangen Hersteller mit den erhöhten Anforderungen durch die MDR. Aus Sorge vor Produktknappheit beschloss die EU-Kommission am 07. März 2023 schließlich die Verlängerung der Übergangsfristen. Das stellt die Pläne vieler Hersteller auf den Kopf, die bereits in die Re-Zertifizierung investiert haben oder ein Produkt zum Mai 2024 vom Markt nehmen wollten. Doch auch für andere Beteiligte birgt die Verlängerung neue beziehungsweise veränderte Herausforderungen.

Von Anfang an schwierig

Mit dem Beschluss 2017 trat die MDR/IVDR-Verordnung am 26. Mai 2021 in Kraft und sah vor, bis 27. Mai 2024 alle Medizinprodukte, neu zertifizieren zu lassen. Das gestaltete sich allerdings aufwendiger als davor angenommen. „2019 gab es mit dem TÜV Süd die erste Benannte Stelle, die nach MDR zertifizieren durfte, danach kamen pro Jahr im Schnitt zehn dazu und 2023 sind wir bei 38 benannten Stellen. Zu MDD-Zeiten waren es doppelt so viele (europaweit)“, erklärt Martin Schmid, Geschäftsführer und Senior-Consultant von encotec. Das Unternehmen berät im Zusammenhang mit Entwicklung, Zulassung und Qualitätsmanagement für die Medizinprodukte-Industrie. Sowohl auf Herstellerseite als auch auf Seiten der Benannten Stellen, die Medizinprodukte zulassen, kam es zu Engpässen.  

Julia Steckeler© Julia Steckeler | MedicalMountains

„Jedoch gibt es den Kapazitätsengpass auch auf Seiten der Labore, da Unternehmen für die MDR Tests machen und Nachweise erbringen müssen“, ergänzt Julia Steckeler, Geschäftsführerin von MedicalMountains. Von 2017 bis Ende 2022 stellten die Benannten Stellen 2.444 Zertifizierungen aus, das entspricht etwa 14 Prozent aller zu zertifizierenden Medizinprodukte. Im Zuge dessen drohte nach Ablauf der Übergangsfrist im Mai 2024 eine Medizinproduktknappheit. Daraufhin beschloss am 7. März der Rat der Europäischen Union, Benannten Stellen und Herstellern mehr Zeit für die Zertifizierung von Medizinprodukten einzuräumen. Je nach Risikoklasse wurde die Frist der MDD-Zertifikate bis in das Jahr 2027 bzw. 2028 verlängert.

Was ändert sich durch die Verlängerung?

Der Beschluss der EU-Kommission sieht vor, die Übergangsfristen für die Re-Zertifizierung in der europäischen Medizinproduktverordnung zu verlängern und "Abverkaufsfristen" zu streichen. Dafür legt die MDR in Artikel 120 die Übergangsbestimmungen, einschließlich der Übergangsfristen fest. „Bei der Verlängerung der Frist lag der Fokus auf der Marktversorgung, es ging um Bestandsprodukte, die schon auf dem Markt waren und unverändert bleiben. Für Innovationen und Start-ups, die es noch nicht vor 2023 gab, sowie Produkte aus der niedrigsten Risikogruppe bietet sie keinen Vorteil“, erklärt Schmid. Aufgrund der komplexen Formulierungen besteht jedoch für Hersteller die Gefahr, die regulatorischen Anforderungen nicht zu verstehen oder zu erfüllen. „Die Fristverlängerungen sind zunächst natürlich zu begrüßen, ändern aber einige grundlegende Probleme nicht. Die Anforderungen an klinische Daten z. B. werden meiner Meinung nach speziell bei Altprodukten oft überinterpretiert, Gesetze und normative Anforderungen unterschiedlich ausgelegt, Kosten steigen extrem. Pragmatische, risikobasierte Ansätze werden von den Benannten Stellen nicht mehr akzeptiert, egal wie lange die Produkte schon auf dem Markt sind. Diese Probleme bleiben trotz Verlängerung bestehen“, sagt Ralf Klein, Geschäftsführer von Radimed.

Dr. Royth von Hahn © Dr. Royth von Hahn | TÜV Süd

Herausforderung der Benannten Stellen

Im Zusammenhang der MDR-Herausforderung stehen auch die Benannten Stellen. Es gibt nicht nur zu wenige von ihnen, ein Teil befindet sich noch bei Behörden in unerwartet langen Benennungsprozessen, um Medizinprodukte zertifizieren zu dürfen. Mit den 6.514 Beiträgen, die jährlich bearbeitet werden können, ergibt sich eine Lücke von 12.500 Anträgen, die eigentlich hätten überführt werden müssen. „Man muss berücksichtigen, dass zwar die Anzahl der MDR-Zertifikate, im Vergleich zu existierenden MDD-Zertifikaten gering war und noch ist, aber die Effizienz und der Durchsatz mit der Zeit zunehmen. Aus unserer Sicht hätte eine Verlängerung bis Mitte oder Ende 2026 ausgereicht. Dennoch begrüßen wir, dass so nun eine sicher ausreichende Frist festgelegt worden ist.“, sagt Dr. Royth von Hahn, Senior Vice Präsident vom TÜV Süd und gibt sich deutlich optimistischer als viele andere Akteure.

Niklas Kuczaty© Niklas Kuczaty | VDMA

Herausforderungen für Unternehmen

Auf Herstellerseite werden der MDR Überregulierung, hoher Aufwand und hohe Kosten sowie die Vernachlässigung von Bestandsprodukten, die bereits auf dem Markt sind, vorgeworfen. „Der Aufwand ist aufgrund der Änderungen, die sich von MDD zur MDR ergeben haben, deutlich höher, sodass es für mittelständische Unternehmen oft eine Frage der Ressourcen ist. Irgendwoher müssen die Kapazitäten für die Re-Zertifizierung genommen werden, im Zweifel aus dem Forschungs- und Innovationsbereich. Aus innovationstechnischer Sicht führt die MDR sicherlich zum Innovationsstau beziehungsweise einer Verlangsamung“, erklärt Niklas Kuczaty, Geschäftsführer der VDMA Medizintechnik und ideeller Träger der MedtecLIVE. Verlangsamt ist auch der Konformitätsbewertungsprozess zwischen Unternehmen und Benannter Stelle. Es fehlt noch immer ein einheitliches Tool, mit dem Zulassungsdokumente eingereicht und automatisiert geprüft werden können. Neben dem erhöhten Aufwand sind auch die Benannten Stellen ein Kostentreiber. Sie haben mit Einführung der MDR ihre Kosten nahezu verdoppelt, heißt es immer wieder von Herstellerseiten. 


„Die direkten Kosten der Benannten Stellen sind aus zwei Gründen gestiegen. Zum einen ist die Bewertungstiefe im Konformitätsbewertungsverfahren durch die MDR gestiegen, weswegen die Verfahren zwischen 30 und 50 Prozent länger dauern. Vor allem die Bewertung der klinischen Daten erfordert mehr Zeit. Zum anderen sind die Kosten auf Seiten der Benannten Stellen gestiegen, weil die Nachfrage nach Technischen und Klinischen Experten in der Herstellerindustrie, so hoch war, dass die marktüblichen Gehälter solcher Experten mit regulatorischer Expertise zwischen 30 und 50 Prozent gestiegen sind. Einen wesentlich höheren Anteil an den Gesamtkosten machen allerdings die internen Aufwände und damit benötigten Ressourcen auf Herstellerseite aus“, erklärt Dr. Royth von Hahn. Ralf Klein erzählt, was die MDR für sein Unternehmen Radimed bedeutete: „Wir haben unsere Produktreihen von sechs auf vier verkleinert, da sich das Konformitätsbewertungsverfahren des Klasse III Produktes unter der MDR hier einfach nicht mehr rechnen würde. Unsere Strategien im Rahmen der MDR sind die Digitalisierung der Akten, um auch die Medizinproduktverfahren zu vereinfachen, darüber hinaus das Wissen im Haus. Als kleines Unternehmen können wir uns es nicht leisten, das Wissen teurer Consultants einzukaufen, die gerade vermehrt zu finden sind. Stattdessen betreiben wir Verbandsarbeit in Netzwerken mit anderen Unternehmen, um Wissen zu teilen.“
„Das Schaffen von Netzwerken und der persönliche Autausch ist gerade bei regulatorischen Themen essenziell und bietet viele Vorteile. Deshalb ist ,Regulatory‘ eines der Schwerpunktthemen auf der MedtecLIVE with T4M", ergänzt Christopher Boss, Executive Director der MedtecLIVE.

Auswirkungen auf die Patienten

Einer der Hintergründe für die Einführung der MDR waren die vermehrten Ereignisse in der Vergangenheit, bei denen Patienten durch Medizinprodukte geschädigt wurden. Produkte sollen aufgrund der erhöhten Anforderungen sicherer, der Medizinproduktmarkt in den nächsten Jahren bereinigt werden. In welchem Ausmaß, das gelingt, lässt sich nur schätzen. „In Europa werden wir an Produktvielfalt verlieren. Wir haben jetzt schon zahlreiche bewährte Medizinprodukte und bei vielen weiteren Produktarten die letzten europäischen Hersteller verloren. Zudem hat die MDR-Einfluss auf die Innovationstätigkeit der Unternehmen und auf die Zusammenarbeit mit den Kliniken. Am Ende wirkt sich auch das auf den Patienten aus. Wir werden versorgt werden, aber nicht so wie man es mal konnte, das heißt Operationstechniken werden ein paar Jahre zurückversetzt, weil Produkte fehlen und man neue, innovative Techniken nicht mehr so leicht in der EU zugelassen bekommt, weil das nicht mehr planbar und viel zu kostenintensiv ist. Die Patientensicherheit der dann noch verfügbaren Produkte wird wie gewohnt gegeben sein, das Patientenwohl jedoch wird deutlich gefährdet“, zieht Julia Steckeler ein nachdenklich stimmendes Fazit.