Interview MedtecLIVE 2024

Interview zum Klimaschutz: „Nicht-nachhaltige Produkte werden vom Markt verschwinden“

Der Verkleinerung des ökologischen Fußabdrucks hat sich die „Allianz für nachhaltige Medizintechnik“ verschrieben, die 2023 auf der MedtecLIVE gegründet wurde. Ein Gründervater ist Ralf Kindervater, Geschäftsführer BIOPRO Baden-Württemberg. Wir wollten von ihm wissen, wo der Hebel anzusetzen ist.

Der Gesundheitssektor ist laut einer Studie weltweit für 4,4 Prozent aller klimaschädlichen Emissionen verantwortlich, in Deutschland sogar für 5,2 Prozent. Davon entfallen 71 Prozent unter anderem auf Herstellung und Transport von Arzneimitteln und medizintechnischen Produkten - ein Problem, das einer Lösung bedarf.

Inside Industry: Herr Kindervater, das Thema Nachhaltigkeit hat offenbar auch die Medizintechnik erreicht – später als manche andere Branche. Warum ist das so?

Ralf Kindervater: In den letzten Jahren hat die Medical Device Regulation die Branche komplett in Atem gehalten. In Baden-Württemberg sind 95 Prozent der Medizintechnik-Unternehmen KMUs, für die eine Neuzertifizierung aller Bestandsprodukte einen erheblichen finanziellen und personellen Aufwand bedeutet. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass andere Themen, wie eine ökologisch nachhaltige Entwicklung der Produkte, lange für viele Unternehmen erstmal zweitrangig waren.

Nichtsdestotrotz spüren wir in der Zusammenarbeit mit den Unternehmen derzeit ein großes Interesse am Thema Nachhaltigkeit. Seit Dezember 2021 begleitet die BIOPRO die baden-württembergische Medizintechnik-Branche gezielt auf ihrem Weg in eine nachhaltige Zukunft.

Medizintechnik-Unternehmen müssen dabei für die Verantwortung sensibilisiert werden, die sie als Akteure entlang der Wertschöpfungskette im Gesundheitswesen tragen. Dazu beizutragen ist das Ziel der Allianz für nachhaltige Medizintechnik, die die BIOPRO Baden-Württemberg gemeinsam mit dem Netzwerk BIOVOX Connect aus Hessen und dem Forum MedTech Pharma aus Bayern im Mai dieses Jahres gegründet hat. Denn für eine zukunfts- und wettbewerbsfähige Wirtschaft ist eine nachhaltige Entwicklung notwendig.

Inside Industry: Sie sagen, mit nachhaltigen Produkten und Prozessen können sich Unternehmen Wettbewerbsvorteile sichern. Investitionen in diesem Bereich können erst einmal viel Geld kosten. Werden sie tatsächlich vom Markt honoriert?

Ralf Kindervater: Bis zum Jahr 2045 soll Deutschland klimaneutral sein, Baden-Württemberg möchte die Klimaneutralität bereits bis 2040 erreichen. Und 2021 appellierte der Deutsche Ärztetag, notwendige Maßnahmen für ein klimaneutrales Gesundheitswesens bis zum Jahr 2030 umzusetzen. Mit dem European Green Deal hat die EU ihre Prioritäten neu gesetzt. Ziele sind unter anderem eine nachhalte Finanzpolitik, Kreislaufwirtschaft und eine saubere Industrie. In der Folge werden regulatorische Rahmenbedingungen an diese Vorhaben angepasst.

Von den gestiegenen umweltrechtlichen Anforderungen ist die Medizintechnik-Branche einerseits direkt betroffen. Andererseits wird der Druck auf die Kliniken erhöht, nachhaltige Ziele zu berücksichtigen und somit nachhaltige Kriterien in die Kaufentscheidung von Produkten einzubeziehen.

Die Frage ist also nicht mehr, ob sich die Medizintechnik-Branche mit nachhaltiger Entwicklung auseinandersetzen muss, sondern wann und wie. Nachhaltigkeit wird schon in kurzer Zeit zur Zugangsvoraussetzung in diverse Gesundheitssysteme werden, sodass nicht-nachhaltige Produkte langfristig vom Markt verschwinden werden. Ausschreibungen werden künftig auch nachhaltige Kriterien berücksichtigen – erste Diskussionen, dieses Thema in das SGB V aufzunehmen, laufen bereits. Wir müssen weg von der rein betriebswirtschaftlichen Betrachtung der Kosten von Produkten und Dienstleistungen, dafür auch soziale und ökologische Kosten als Wert einbeziehen.

Die Frage ist, wo fängt die Produktverantwortung an und wo hört sie auf. Unternehmen, die diese Entwicklung und den Wandel frühzeitig erkennen und ihre Strategieprozesse anpassen, erhöhen damit ihre Zukunfts- und Innovationsfähigkeit.


Inside Industry: In der Allianz für nachhaltige Medizintechnik treten Sie für vernetztes Handeln ein. Aber vielleicht kann ein einzelnes Medizintechnik-Unternehmen sofort und für sich allein Maßnahmen ergreifen, um gewissermaßen morgen schon etwas nachhaltiger zu sein. Haben Sie dafür Tipps?

Ralf Kindervater: Der erste Schritt, um als Unternehmen nachhaltiger zu agieren, ist die Erfassung des Status quo. Zu wissen, welche Umweltauswirkungen die Entwicklungs- und Produktionsprozesse sowie die Produkte über ihren gesamten Lebensweg haben, ist die Grundlage jeden Handelns. Identifiziert werden dabei auch Maßnahmen, die mit geringem Aufwand einen großen Effekt auf die Umweltauswirkungen und die Treibhausgasemissionen haben können. Maßnahmen wie etwa der Umstieg auf zertifizierten Ökostrom oder die Umstellung der Kantine auf ökologische, saisonale und regionale Produkte sind branchenübergreifend umsetzbar. Etwas aufwendiger wäre die Bereitstellung eigener Solaranlagen oder Systeme für die Fernwärmeerzeugung. Materialauswahl und -einsparung, Leichtbau oder ein ökologisches Design der Produkte für die Weiterverwertung in einer Kreislaufwirtschaft oder für das Recycling sind aufgrund der unterschiedlichen Produkte und Produktionsverfahren in der Medizintechnik unternehmens- und produktabhängig zu identifizieren.

Ein hoher Druck wird auch in Kürze von den Abnehmern der Medizintechnikprodukte, zum Beispiel den Kliniken, kommen. Hier werden bereits an mehreren Stellen Nachhaltigkeitsstrategien, Ökobilanzen und CO2-Fußabdrücke berechnet und in zukünftige Handlungsweisen umgesetzt. Dort muss die gesamte Wertschöpfungskette mitschaffen, einzelne Akteure werden hier nicht erfolgreich sein.

Als Querschnittsthema ist Nachhaltigkeit auf allen Ebenen und in allen Entscheidungen eines Unternehmens zu berücksichtigen. Um das Gesundheitswesen langfristig nachhaltig zu gestalten, ist die Vernetzung aller Akteurinnen und Akteure notwendig. Und genau das ist das Ziel der Allianz für nachhaltige Medizintechnik.
 


Zur Person

Professor Dr. Ralf Kindervater promovierte als Diplom-Chemiker der Fachrichtungen Biochemie und Biotechnologie an der Technischen Universität Braunschweig. Nach Stationen an der Eberhardt Karls Universität Tübingen, dem Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik in Stuttgart, der Eppendorf AG in Hamburg und der Regionalansiedlungsgesellschaft Biostart mbH in Jena war Ralf Kindervater in Interimsvorstands- und Geschäftsführungspositionen in mehreren Biotech-Unternehmen tätig. Seit 2003 ist er Geschäftsführer der Landesagentur BIOPRO Baden-Württemberg GmbH in Stuttgart für die Bereiche Gesundheitsindustrie und Bioökonomie. Als Honorarprofessor ist Ralf Kindervater am Karlsruher Institut für Technologie tätig. Im November 2020 wurde er in den Bioökonomierat der Bundesregierung berufen.