Trendreport MedtecLIVE 2024

Im Kreislauf des Fortschritts: Nachhaltige Medizintechnologie und die Herausforderungen der Branche

Die Herstellung, Nutzung und Entsorgung von medizinischen Geräten und Produkten sowie deren Energieintensität tragen zur globalen Klimakrise bei. „Nachhaltige Praktiken“ in der Medizintechnik sind deshalb von großer Bedeutung, um den Weg zu einer umweltfreundlicheren Gesundheitsbranche zu ebnen.

Es geht um weit mehr als den Ausstoß von CO2. Denn die „Planetary Health“, also das Wechselspiel zwischen menschlicher Gesundheit und dem Wohlbefinden des Planeten, wird laut Dr. Christian Schulz, Geschäftsführer der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit, zunehmend bedroht: durch Umweltverschmutzung, Ressourcenübernutzung und den Klimawandel. „Durch das Überschreiten immer mehr planetarer Belastungsgrenzen verschlechtern sich die Lebensbedingungen für den Menschen, überall“, erklärt Dr. Schulz.

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Dr. Christian Schulz, Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit

Circular Economy in der Medizintechnik

In der Medizintechnik bedeutet Circular Economy, den Lebenszyklus von Geräten und Produkten in einen nachhaltigen Kreislauf zu verwandeln. Hier dreht sich alles darum, wie die Abfallproduktion reduziert werden kann, wie Hersteller Geräte gestalten, ihnen eine zweite Chance geben und schließlich ihre Materialien in einen neuen Rhythmus des Recyclings integrieren.

Mithilfe von nachhaltigen Praktiken, wie die Lebensdauer von medizinischen Geräten zu verlängern, Wiederaufbereitung zu fördern und Materialien zu recyceln, kann der Medizintechniksektor demnach ökologische Verantwortung übernehmen und positive Auswirkungen auf die globale Gesundheit erzielen. Dieser Ansatz ermöglicht die Reduzierung von Abfällen und Umweltauswirkungen. Denn nach Angaben von "Abfallmanager Medizin" sind Krankenhäuser mit 4,8 Millionen Tonnen pro Jahr bereits auf Platz fünf der größten Abfallproduzenten Deutschlands.

„Um einen nachhaltigen Kreislauf herzustellen, sind Aspekte zu betrachten, wie die einfache Demontierbarkeit von separat zu behandelnden Komponenten, zum Beispiel seltenerdhaltige Motoren und Batterien, oder der minimale Einsatz von Einmalprodukten sowie von Verpackungsmaterialien“, sagt Dr. Romy Auerbach, Projektleitung Medizintechnik bei der Fraunhofer-Einrichtung für Wertstoffkreisläufe und Ressourcenstrategie IWKS.

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Dr. Romy Auerbach, Fraunhofer IWKS

Komplexe Regulatorik fordert die Medizintechnik

Um ein Umdenken in Bezug auf Nachhaltigkeit voranzutreiben, bedarf es aber der Einhaltung diverser Vorschriften. Die Regulatorik erfordert an vielen Stellen die Umsetzung standardmäßiger Qualitäts- und Sicherheitsstandards und stellt eine wachsende Herausforderung für Hersteller dar. „Medizinprodukte unterliegen einer Zulassung gemäß Medizinprodukteverordnung (2017/745/EU)“, erklärt Dr. Auerbach. „Das bedeutet, dass für kleinste Änderungen von bestehenden Produkten dann ein neuer Zulassungsprozess gestartet werden muss, was teilweise Jahre dauern kann.“

Und so enthält etwa auch die MDR (Medizinprodukteverordnung) Vorschriften zur Sicherheit und Leistung von Medizinprodukten in der EU. Sie fordert eine umfassende Berücksichtigung von Umweltaspekten während des gesamten Lebenszyklus. Hier stehen weitere Hürden, beispielsweise bei der Wiederaufbereitung von Einmalprodukten wie Pinzetten und Scheren, die zum großen Teil im Pflegebereich eingesetzt werden. Experten von der IWKS schätzen, dass in Deutschland durch solche Produkte jährlich etwa 22 Millionen Einwegartikel aus Stahl anfallen. Der verwendete Stahl, der rund 18 % Chrom enthält, kann hochwertig zurückgewonnen und als reiner Rohstoff wiederverwendet werden.

„Es gibt allerdings Herausforderungen, z. B. bei der Umsetzung der Wiederaufbereitung von Einmalprodukten: Nach Paragraph 8 Absatz 6 der MPBetreibV (Medizinprodukte-Betreiberverordnung) in Verbindung mit Artikel 17 Absatz 5 der MDR ist es beispielsweise erforderlich, dass externe Begutachtungen von einer anerkannten Benannten Stelle vorzunehmen sind. Allerdings gibt es in Europa, Stand heute, keine Benannte Stelle, die sich für diese Aufgabe der Zertifizierung von aufbereiteten Einmalprodukten gemeldet hat. De facto ist eine Umsetzung hier also gar nicht möglich“, sagt Nachhaltigkeitsexpertin Clara Allonge des Bundesverbands Medizintechnik BVMed.

Insgesamt ergeben sich durch die MDR hohe regulatorischen Anforderungen, die für Hersteller in der Medizintechnikbranche Kosten und Verpflichtungen mit sich bringen. „Insgesamt ist die MedTech-Branche bereits sehr streng durch die MDR reguliert. Damit verbundene Ressourcenaufwände und die zusätzliche Bürokratielast aus der nachhaltigkeitsbezogenen Regulatorik binden erhebliche Kapazitäten. Die regulatorischen Anforderungen der MDR gehen mit mehrjährigen Zyklen für Entwicklung, Registrierung und Validierung von Produkt- und Verpackungslösungen einher. Wir brauchen eine bessere Berücksichtigung der bereits bestehenden Anforderungen und mindestens eine ausreichende Umsetzungsfrist bei neuen Anforderungen“, sagt Clara Allonge.

Neue Anforderungen gibt es beispielsweise nach EU-Richtlinie 94/62/EG in Verbindung mit der Richtlinie 2018/852. Diese sollen die Ziele für das Recycling von Verpackungsabfällen heraufsetzen. Laut Johner Institut sind aber zum Beispiel in Fällen von Nadeln oder Kathetern, die zwingend steril verpackt werden müssen, die Möglichkeiten eingeschränkt, Verpackungsmaterial zu ersetzen oder zu reduzieren. Biovox, Start-up Anbieter für recyclebare Bio-Kunststoffe, spart durch die Verwendung von biobasierten Kunststoffen bis zu 85 % CO2 bei ihrer Verbrennung und sie sind zudem rezyklierbar. Somit können sie in einem Closed Loop wieder in Produkten in der Medizintechnik eingesetzt werden. „Unsere Kunststoffe sind nicht nur nachhaltig, sondern auch sicher“, sagt Biovox-Gründerin Carmen Rommel. „Wir haben sie, unter denselben Normen und Verfahren wie derzeitig eingesetzte Kunststoffe, auf Biokompatibilität geprüft. So können wir das Plastikproblem lösen.“

Der Europäische Green Deal und Verantwortung der Branche

Und auch der Europäische Green Deal ist eine ehrgeizige Initiative, die darauf abzielt, die Europäische Union bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen. Das hat Auswirkungen auf die Branche. Beispielsweise betont der Green Deal die Bedeutung einer Kreislaufwirtschaft, bei der Produkte am Ende ihrer Lebensdauer wiederaufbereitet und recycelt werden sollen.

In der Medizintechnik sollen daher Geräte so gestaltet werden, dass sie leicht zerlegt und wiederverwendbare Materialien zurückgewonnen werden können. Auch soll der ökologische Fußabdruck ihrer Produkte minimiert werden. Dies soll durch die Verwendung umweltfreundlicher Materialien, ressourceneffiziente Produktion und den Einsatz erneuerbarer Energien erfolgen.

„Mit dem Green Deal soll Europa der erste klimaneutrale Kontinent werden. Klar ist: Moderne Medizintechnologien dienen den Menschen und ihrer Gesundheitsversorgung. Und auch bei ihrer Produktion und dem Vertrieb müssen die Lebensgrundlagen der Menschen im Blick behalten und ihre Rechte umfassend geachtet werden. Aber natürlich hat die Medizintechnik auch einen ökologischen Fußabdruck. Die Branche möchte diesen verringern. Wesentlich ist dabei die besonders sensible Güterabwägung, da es um die Sicherheit der Patienten und Anwender geht. Die Branche arbeitet daher bereits intensiv an nachhaltigen Alternativen, ohne dass die Versorgung darunter leidet“, sagt Allonge.

 

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Frank Detering, Wild Design

Langlebigkeit als Schlüssel zur ökologischen und wirtschaftlichen Effizienz

Das Designen für Langlebigkeit ist eine Praktik, durch die die Medizintechnik Nachhaltigkeit fördern kann. Dieser Ansatz in der Produktgestaltung zielt darauf ab, medizinische Geräte so zu konzipieren, dass sie über eine verlängerte Lebensdauer verfügen. Dies beinhaltet den Einsatz hochwertiger, langlebiger Materialien sowie die Integration von Konstruktionsmerkmalen, die es ermöglichen, bestimmte Komponenten leicht zu ersetzen oder zu reparieren, ohne das gesamte Gerät austauschen zu müssen. Laut Frank Detering, Dipl. Designer bei Wild Design, einer Agentur für Medical Design, ist es die wichtigste Voraussetzung, beim Entwerfen von medizinischen Geräten, stets die Nachhaltigkeitsaspekte im Blick zu behalten. „Vor etwa 15 Jahren war ich beispielsweise bei der Entwicklung eines chirurgischen Kombi-Instruments zum Schneiden und Koagulieren beteiligt. Das war damals einzigartig bei der Einführung, denn alternativ dazu gab es bis dahin nur Single-Use-Produkte. Der wichtigste Designbeitrag besteht darin, langlebige Produkte zu gestalten, also ein Design und Formensprachen, die nicht nach wenigen Jahren schon als veraltet erkennbar wären. Im Materialbereich und bei Verpackungen hat dieses Bewusstsein allmählich eingesetzt“, sagt Detering.

Hermann Achenbach, Leiter Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft des Kunststoffzentrums SKZ, verdeutlicht die Bedeutung von langlebigem Gerätedesign: „Grundsätzlich ist natürlich die einfache Separierbarkeit der Kunststoffteile wichtig. Klebeverbindungen sollten beispielsweise vermieden werden, sie sind oft schwer zu trennen und bringen Verunreinigungen mit sich. Es gibt auch andere Fügeverfahren, die eine Auftrennung vereinfachen. Beim Design muss darauf geachtet werden, dass die Geräte so zerlegt werden können, dass Verunreinigungen durch Glas, Metalle, Fasern, Holz, Papier, Pigmente, Additive oder Flammschutzmittel nicht auftreten.“ Auf diese Weise können Geräte nach ihrer Nutzung leichter zerlegt und ggf. ersetzt werden.

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Hermann Achenbach, Kunststoffzentrum SKZ

Ein vielversprechender Trend ist auch die verstärkte Verwendung von modularen Komponenten. Diese ermöglichen nicht nur eine einfachere Wartung, sondern auch eine gezielte Aktualisierung oder Reparatur von spezifischen Teilen, ohne dass das gesamte Gerät außer Betrieb genommen werden muss. Dies trägt nicht nur zur Verlängerung der Lebensdauer bei, sondern minimiert den Elektroschrott und reduziert den Ressourcenverbrauch.

Ein weiterer innovativer Ansatz besteht darin, fortschrittliche Diagnose- und Überwachungstechnologien zu integrieren, die eine frühzeitige Identifizierung von potenziellen Problemen erlauben. Dies ermöglicht präventive Wartungsmaßnahmen, bevor schwerwiegendere Schäden auftreten, und fördert somit die Nachhaltigkeit der medizinischen Geräte.

Durch die Implementierung solcher Methoden kann die Medizintechnikbranche nicht nur ihre ökologische Bilanz verbessern, sondern auch wirtschaftliche Vorteile durch längere Nutzungsdauer und reduzierte Betriebskosten erzielen. Laut Softwareanbieter Praxedo ist gerade die Wartung von Geräten ein bedeutender Kostenfaktor für Krankenhäuser. Diese Kosten lassen sich bei präventiver Wartung deutlich reduzieren.

Die Zukunft medizinischer Geräte durch Wiederaufbereitung gestalten

Gerätedesign, das auf einfache Demontage und Wiederaufbereitung abzielt, fördert ebenfalls die Nachhaltigkeit. Klare Kennzeichnungen und standardisierte Module erleichtern den Recyclingprozess. Um diesen Ansatz zu unterstützen, könnten Hersteller auf Rücknahmesysteme setzen, die es Anwendern ermöglichen, Geräte am Ende ihrer Lebensdauer unkompliziert zurückzugeben.

Das Elektrogesetz vom 16. März 2005, welches die Rücknahme und die umweltverträgliche Entsorgung von Elektrogeräten reguliert, setzt zum Beispiel auch europäische Vorschriften zur Vermeidung von Abfällen und zur Schonung von Ressourcen um.

„Medizinprodukte mit elektrischen bzw. elektronischen Komponenten gelten beispielsweise als Elektrogeräte und fallen unter die Regelungen der Elektro-Gesetzgebung. Damit sind Händler bzw. Hersteller verpflichtet, diese zurückzunehmen und zu verwerten. Dies wird bei medizinischen Großgeräten zum gewissen Anteil auch getan, indem sie refurbished werden, um dann erneut dem Markt zugeführt zu werden oder als Ersatzteile zu dienen“, erklärt Dr. Auerbach. „Dies verringert das Abfallaufkommen und hat zum Ziel, marktfähige Fraktionen aus Metallen und Kunststoffen zu gewinnen.“

Ressourcenschonung durch effektives Materialrecycling

Medizinische Geräte können so konzipiert werden, dass sie effektiv zerlegt werden können, um so wertvolle Materialien zurückzugewinnen und in den Produktionskreislauf zurückzuführen. Ein entscheidender Aspekt dieses Ansatzes ist die Implementierung von effizienten Recyclingprozessen. Dies erfordert nicht nur technologische Innovationen, sondern auch die Zusammenarbeit zwischen Herstellern, Recyclingdienstleistern und Regulierungsbehörden. Romy Auerbach führt diese Prozesse aus: „Verwertungsverfahren für Elektroaltgeräte sind verschiedene Zerkleinerungsmethoden, Siebung, Sichtung, magnetische Trennverfahren und sensorbasierte Sortierung. Das Fraunhofer IWKS entwickelt beispielsweise neue Trenn- und Sortierverfahren, auch unter Nutzung von KI, um auch für solche Produkte die Materialtrennung noch effizienter zu gestalten.“ Die Zerlegung der Geräte muss also präzise erfolgen, um eine wirksame Rückgewinnung von Materialien wie wertvollen Metallen, Kunststoffen und Elektronikkomponenten zu ermöglichen. „Und in Sortieranlagen können dann Kunststoffe zum Beispiel mit Nahinfrarotspektroskopie (NIRS) erkannt und dann mit pneumatischen Düsen aussortiert werden. Es gibt viele weitere Sortiertechnologien, die Kunststoffe noch stärker differenziert sortieren können, als das mit NIRS geht. Mit KI-Mustererkennungsmethoden, Sortierrobotern oder auch Markern, die in die Kunststoffe eingearbeitet werden, lassen sich sehr spezifisch Kunststofftypen gezielt sortieren“, ergänzt Achenbach.

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Jens Fernis, AHN Biotechnology

„Schon in der Verpackung können die Grundsätze der Nachhaltigkeit und Umweltverantwortung verkörpert werden. Wir berücksichtigen die umweltfreundlichsten Verfahren mit dem übergeordneten Ziel, so viel Plastik wie möglich zu vermeiden“, sagt Jens Fernis, Sales Director bei AHN Biotechnology. „Das geschieht beispielsweise durch platzsparende Spendertürme beim Transport, welche nicht nur eine nachhaltige Lösung zur Reduzierung von Plastik darstellen, sondern zudem Transportkosten und Kraftstoffemissionen reduzieren. Auch unsere kryogenen Aufbewahrungsboxen aus Pappe sind die perfekte Lösung für die nachhaltige Organisation und Konservierung von Proben; sie sind für extrem niedrige Temperaturen und eine hervorragende thermische Stabilität ausgelegt, ohne die Verwendung von Kunststoffen. 

Eine Branche im Wandel

Es wird deutlich, dass die Medizintechnik vor wegweisenden Veränderungen steht. Auch auf der MedtecLIVE, die vom 18. bis zum 20. Juni 2024 in Stuttgart stattfindet, wird das ein zentrales Thema sein. „In Anbetracht der sich immer schneller wandelnden und durchaus komplexen Anforderungen, aber auch Lösungen, legt die MedtecLIVE einen Schwerpunkt auf Nachhaltigkeit bzw. Circular Economy. Die MedtecLIVE bietet eine Plattform, um innovative Lösungen zu präsentieren und einen konstruktiven Dialog darüber zu führen, wie die Branche gemeinsam die Herausforderungen der Kreislaufwirtschaft bewältigen kann, um eine nachhaltige Zukunft zu gestalten“, sagt Christopher Boss, Geschäftsführer der MedtecLIVE GmbH und Executive Director der Veranstaltung.

ChristopherBoss.jpg (0.3 MB)Christopher Boss, MedtecLIVE GmbH