Medizintechnikunternehmen auf der ganzen Welt ändern derzeit ihre Strategie: von der Betonung des Wachstums zur Priorisierung des Gewinns. Das steht in der Studie „Future of Medtech 2024“ von Roland Berger. Inside Industry interviewte Janes Grotelüschen, einen der Studienautoren, zu den Ergebnissen.
Herr Grotelüschen, Sie glauben, dass eine neue Ära für die Medizintechnikindustrie begonnen hat. Woran machen Sie das fest?
Janes Grotelüschen: Eine neue Ära wird ja immer von signifikanten und grundlegenden Veränderungen angestoßen. Genau das sehen wir aktuell in der Medizintechnikindustrie: Zentrale Charakteristiken der Branche ändern sich, es kommt zu einer grundlegenden Umstellung der strategischen Agenda, weg vom bisherigen klaren Fokus auf Wachstum hin zu einem Fokus auf Performance-Optimierung. Das manifestiert sich in der Umfrage für unsere Studie und wir erleben es auch in unseren Projekten. Zum Beispiel ist die Medizintechnik bisher für ihren sehr personalintensiven Vertrieb bekannt – und unterscheidet sich darin deutlich von anderen Branchen. Genau diesen charakteristischen Ansatz stellen die Unternehmen nun, neben anderen Aspekten, auf den Prüfstand und suchen nach Möglichkeiten zur Digitalisierung und Automatisierung des Vertriebs.
Setzen die Unternehmen bei dem Versuch, ihre Gewinne zu steigern, die richtigen Prioritäten? Was sind nach Ihrer Überzeugung die wichtigsten Schritte?
Janes Grotelüschen: Bleiben wir beim Beispiel Vertrieb mit seinen auffällig hohen Personalkosten: Er hat zwar in der Vergangenheit zum Wachstum der Industrie beigetragen, aber vor dem Hintergrund einer neuen, digitaleren Welt ist es richtig und wichtig, diesen Ansatz grundsätzlich zu hinterfragen. Genau deshalb priorisieren auch die meisten unserer Umfrageteilnehmer diesen Bereich der Wertschöpfung. In unseren Projekten zeigt sich zudem, dass Optimierungen in den Wertschöpfungsbereichen Supply Chain und Einkauf ähnlich wichtig sind für die Optimierung der Profitabilität. Zumal die Abwägung von Risiken und die Umsetzbarkeit dafürsprechen. Andere Wertschöpfungsschritte wie beispielsweise R&D mögen zwar ein vermeintlich höheres Potenzial aufweisen, aber in der Supply Chain und im Einkauf sind Effizienzen deutlich einfacher und oft risikoärmer zu realisieren. Deshalb ist es vollkommen nachvollziehbar, dass viele Unternehmen neben dem Vertrieb auch diese beiden Bereiche der Wertschöpfung in ihren aktuellen Initiativen priorisieren.
Wo kann der Einsatz von KI, Machine Learning oder Robotik die Strategien zur Rentabilitätssteigerung wirkungsvoll unterstützen?
Janes Grotelüschen: Neue Technologien können zur Rentabilitätssteigerung beitragen, das schlägt sich auch in unserer Studie nieder: 78 Prozent der Befragten halten sie für wichtig oder sogar sehr wichtig, um langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben. Allerdings hat sich auch gezeigt, dass die Effizienz sehr stark vom Einsatzbereich und der Umsetzung abhängt. Vor allem im Bereich Supply Chain gibt es ein großes Optimierungspotenzial durch KI, Robotik und Machine Learning, ähnlich auch in der Produktion und im After Sales-Bereich. Der Overhead-Bereich bietet dagegen nur begrenzt Möglichkeiten, mit neuen Technologien zur Ergebnisverbesserung beizutragen. Zudem sehen wir in unserer täglichen Projektpraxis, dass der Erfolg der getroffenen Maßnahmen oft entscheidend davon abhängt, wie und vor allem wie konsequent sie umgesetzt werden. Hier empfiehlt sich häufig eine temporäre externe Unterstützung, um Themen mit der gebotenen Priorität und Stringenz voranzutreiben.
Ihre Studie ist global angelegt. Können Sie Unterschiede in den Strategien erkennen zwischen Unternehmen aus Europa und denen aus anderen Teilen der Welt?
Janes Grotelüschen: Die beschriebene grundsätzliche Änderung der Strategie zeigt sich tatsächlich nicht nur regional in Europa, sondern in weiten Teilen der Welt. Das liegt daran, dass der Kostendruck, den die meisten Unternehmen als Auslöser nennen, überall relevant ist. Nichtsdestotrotz lassen sich bei näherer Analyse auch Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen identifizieren. Zum Beispiel ist in Europa der regulatorische Druck, unter anderem durch die Einführung der MDR, ein wichtiger Faktor: Der dadurch steigende Aufwand pro zusätzlichem Produkt oder zusätzlicher Produktlinie führt dazu, dass vor allem europäisch-konzentrierte Unternehmen ihren Fokus noch stärker auf Portfolio Streamlining legen.
Wenn sich Unternehmen auf ihre Kernmärkte konzentrieren und auch ihre Produktpaletten straffen, wird das nicht zwangsläufig negative Auswirkungen auf die weltweite medizinische Versorgung haben?
Janes Grotelüschen: Grundsätzlich sind Auswirkungen natürlich zu erwarten und teilweise auch bereits im Markt erkennbar. Das gilt insbesondere für Portfoliostraffungen: Sie sind bereits spürbar und führen teilweise zum Wegfall ganzer Produktportfolios oder zur Reduktion von Produktvarianten. Wir bekommen aus dem Markt jedoch das Feedback, dass die Versorgung in den meisten Fällen nicht beeinträchtigt ist, da ausreichend Alternativen zur Verfügung stehen. Letztlich muss man konstatieren, dass eine gute Gesundheitsversorgung auf wirtschaftlich gesunde Medizintechnikunternehmen angewiesen ist, die zum Bespiel auch ausreichend in R&D investieren können. Insofern sind die aktuellen Optimierungsmaßnahmen unumgänglich und nützen schlussendlich auch der Versorgung.
Zur Person
Janes Grotelüschen ist Partner im Münchner Büro von Roland Berger. Seit 2013 konzentriert er sich auf den Gesundheitsmarkt, insbesondere auf Krankenhäuser, Medizintechnik und Homecare. Seine Schwerpunkte liegen in der Definition von Wachstumsstrategien sowie Transformations- und Performanceprogrammen. Darüber hinaus begleitet er regelmäßig Kunden in der Digitalisierung und Weiterentwicklung der IT. Janes Grotelüschen hat sein Wirtschaftsstudium an der HHL Leipzig Graduate School of Management abgeschlossen.