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Digitale Gesundheitsanwendungen: Der Durchbruch naht

Mit dem Beschluss des Gesetzes für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation (Digitale-Versorgung-Gesetz, DVG) im Dezember 2019 können digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) endlich durchstarten. Ein spannendes Thema, welches auch auf der MedtecLIVE unter die Lupe genommen wird.

DiGAs – App auf Rezept

DiGAs, das sind Medizinprodukte, deren Hauptfunktionen auf digitalen Technologien beruhen. Mithilfe der Anwendungen sollen Erkennung, Überwachung, Behandlung, Linderung oder Kompensation von Krankheiten, Verletzungen oder Behinderungen möglich gemacht werden. 48 Anträge wurden bereits beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eingereicht. Anwendungen, die bereits auf dem Markt sind, beschäftigen sich mit chronischem Tinnitus, Angststörungen, Rücken- und Gelenkschmerzen, Adipositas und Schlafstörungen.

Hohe Anforderungen von Anfang an einkalkulieren

Christof Schifferings, Geschäftsführer der Mynoise GmbH und Entwickler von Kalmeda, einer App für Tinnitus-Erkrankte, betont, wie wichtig es ist, bereits vor der Entwicklung zu wissen, worauf man achten muss: „Von Anfang an war uns klar: Achtung, wir wollen ein Medizinprodukt programmieren. Wir müssen von Beginn an bei der Entwicklung die Anforderungen an Datenschutz und Datensicherheit, aber insbesondere auch die geforderten Dokumentationspflichten aus dem Medizinprodukteumfeld beachten.“ Denn: Alle Anforderungen gleich zu berücksichtigen, spart später Zeit und finanzielle Mittel.

Auch Chantal Herberz, Produktmanagerin bei Portabiles HealthCare Technologies GmbH, einem Startup, welches bereits Aussteller auf der MedtecLIVE war, kennt die Herausforderungen auf dem Weg zur DiGA. Sie und ihr Team arbeiten derzeit an einer Anwendung für Parkinson Patienten. Dabei spielt auch das in der Regel höhere Alter der Zielgruppe eine Rolle: „Da ist eine Herausforderung, die Anforderungen an die Technik gut und gleichzeitig simpel umzusetzen, damit die ältere Patientengruppe damit gut zurechtkommt. Das ist für uns aber per se keine Hürde, sondern einfach etwas, was wir berücksichtigen müssen.“

Nach der Zulassung wartet dann die nächste Aufgabe, die Hersteller jeder Branche kennen: Wie kommt das Produkt zum Verbraucher? Viele Ärzte wissen möglicherweise noch nicht um die Existenz der helfenden Apps. Deshalb, so die Entwickler, müssen digitale Lösungen bekannter in der Gesellschaft werden: Aufklärungsarbeit ist der Schlüssel. „Unser Ziel ist es, nicht vorbei an den Ärzten, sondern mit ihnen gemeinsam zu arbeiten. Dazu bekommen wir viele positive Rückmeldungen“, so Schifferings von Mynoise. Ähnlich sieht das Julia Hagen, Director Regulatory and Politics beim Health Innovation Hub (hih): „Die Gesellschaft kennt DiGAs noch nicht. Das fängt alles gerade erst an, so langsam durchzutröpfeln.“ Bis sich die digitalen Ergänzungen zu traditionellen Behandlungsmethoden etabliert haben, werde es noch eine Weile dauern. Denn: „Aktuell zeichnet sich aufseiten der Ärzte noch vorwiegend eine Zurückhaltung ab. Viele wollen erst mal abwarten, inwiefern sich die DiGAs wirklich im Gesundheitsmarkt etablieren. Mit zunehmender Nachfrage seitens der Patienten und der Verfügbarkeit von validen Informationen in diesem Bereich ist es aber zu erwarten, dass sich auch die Bereitschaft unter der Ärzteschaft zur Verordnung von DIGAs erhöhen wird“, so Natalie Gladkov, Referentin für digitale Medizinprodukte vom Bundesverband Medizintechnologie (BVMed), der auch Mitglied im Fachbeirat der MedtecLIVE ist.

Und auch Hagen vom hih erwartet, dass der Markt weiter wächst und betont, dass regulatorische Anforderungen unerlässlich sind: „Die Hersteller haben immer das Interesse, dass die Anforderungen so leicht wie nur möglich sind, klar. Grundsätzlich hilft aber die Transparenz des Leitfadens und der Kriterien. Die Kunst ist es, eine Balance aus dem Schutz der Patienten und dem einfachen Zugang zum Markt zu finden. Man sieht ja, dass es nicht im Bereich des Unmöglichen liegt, aufgenommen zu werden.“

Warum bisher erst recht wenige Gesundheitsanwendungen in das Verzeichnis aufgenommen worden sind, erklärt Ariane Schenk, Referentin für Health und Pharma beim Digitalverband Bitkom, der ebenfalls Unterstützer von MedtecLIVE & MedtecSUMMIT ist: „Die Gründe dafür liegen an den hohen Anforderungen, die DiGA-Hersteller erfüllen müssen, weswegen die Vorbereitung des Antrags viel Zeit und Aufwand in Anspruch nimmt.“ Diese Kriterien existieren zum Schutz der Patienten und werden auch von Herstellern für notwendig und wichtig angesehen. Die Geschwindigkeit der Zulassung wird von Hagen positiv beschrieben: „Das BfArM hat in den vergangenen Monaten einen großartigen Job gemacht. Kriterien und Anforderungen mussten im Detail festgelegt werden, der Prüfkatalog wurde erstellt – all das dauert seine Zeit, zumal jeder einzelne Schritt auf Neuland gesetzt wurde. Dies alles in so kurzer Zeit zu realisieren, verdient ein großes Lob.“

Ziel: Versorgungslücken schließen

Die Studie „Ärzte im Zukunftsmarkt Gesundheit 2020/2“ zum Thema DiGAs zeigt, dass die Anwendungen besonders in der Sportberatung/-anleitung, der Tagebuchfunktion, Aufzeichnung von Vitalparametern, Ernährungsberatung und Verhaltenskontrolle gesehen werden. Über 80 Prozent der ambulant tätigen Ärzte und Psychologen schätzen den Nutzen in diesen Bereichen als gut ein, so die Ergebnisse der Studie. Auch Dr. Julian Braun, Vorstandsmitglied beim Spitzenverband digitaler Gesundheitsversorgung, sieht viele Chancen: „Wenn es uns gelingt, DiGAs im Versorgungsalltag zu etablieren, schaffen wir damit nicht nur einen neuen Versorgungszweig, sondern können auch bestehende Leistungsangebote ergänzen und Versorgungslücken schließen. Eine weitere Chance sehe ich darin, dass DiGAs neue Versorgungsimpulse setzen.“ Hagen sieht das ähnlich: „Wir haben für einige Krankheiten teilweise wenige Optionen in der derzeitigen Praxis, gerade was psychische Krisen angeht. Die Therapeuten sind ausgelastet. Die digitalen Therapien können hier an einigen Stellen dafür sorgen, dass mehr Patienten – online unterstützt – schneller Hilfe zuteilwerden kann und Therapeuten und Ärzte entlastet werden.“

Akzeptanz auf Patienten- und Ärzteseite gewinnen

Auf positive Reaktionen stoßen die digitalen Gesundheitsanwendungen auch bei Anwendern selbst: DiGAs beziehen sich direkt auf bestimmte Krankheitsbilder und können so gezielt eingesetzt werden. „Die Akzeptanz und das Interesse bei Patienten sind sehr hoch. Ca. 75 Prozent der Menschen in Deutschland nutzen schon heute frei verfügbare Gesundheits- und Fitness-Apps. Ebenfalls groß ist das Interesse, sich Gesundheits-Apps verordnen zu lassen: 6 von 10 Befragten (59 Prozent) können sich gut vorstellen, eine solche App zu nutzen. Selbst von den über 65-Jährigen sagt dies fast jeder Zweite (48 Prozent)“, berichtet Schenk. Dagegen sind Gründe für Skepsis laut Schenk weniger die digitalen Gesundheitsanwendungen selbst, sondern eher, dass Unsicherheiten durch fehlende Formalia und regulatorische Kriterien entstehen. „Umso erfreulicher ist es jedoch, dass nur wenige Wochen nach Einführung bereits jeder vierte Arzt (24 Prozent) angibt, von nun an digitale Gesundheitsanwendungen verordnen zu wollen“, sagt Schenk. Ein positives Bild erlebt auch Dr. Braun und sieht die ersten DiGAs als gute Grundlage: „Im Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung e.V. bekomme ich das große Interesse an digitalen Lösungen mit. Gleichzeitig gibt es aber auch ein großes Informationsbedürfnis. Wir sehen es als Vertreter der Hersteller daher als unsere Aufgabe, umfassend und transparent Ärzte, aber auch andere Akteure im Gesundheitswesen über DiGAs zu informieren, z. B. in Verordnungsprozessen und zu den Grundlagen des BfArM-Prozesses.“

DiGAs bereichern den Behandlungs-Mix

Auf dem Weg in eine digitale Zukunft? Schifferings von Mynoise ist der Überzeugung: „Die Digitale Medizin wird in der Zukunft nicht mehr wegzudenken sein. Vor allem füllt sie eben bestehende Lücken in der Versorgung.“ Auch Herberz von Portabiles ist zuversichtlich: „Wir sind jetzt am Beginn einer neuen Versorgungslandschaft, wir sind im Umbruch. Die derzeitige Corona-Pandemie spielt den digitalen Innovationen in der Versorgung auch in die Karten. Genau jetzt ist die Zeit da, das Mindset zu verändern.“ Hierfür weist Christopher Boss, Leiter der MedtecLIVE, auf das Event hin: „Die MedtecLIVE im Frühjahr 2021 bietet die perfekte Möglichkeit, sich über den aktuellen Stand und das Vorgehen anderer DiGA-Hersteller auszutauschen sowie Dienstleister und Sparringspartner als Hilfe für die Zulassung zu finden. Zudem bekommt man einen Überblick über neue Technologien und Innovationen im MedtecSUMMIT.“ Einen Schlussgedanken für die Zukunft zieht Dr. Braun. „Wir begreifen DiGAs als Chance, jetzt die Digitalisierung des Gesundheitswesens in Deutschland wirklich umfassend und nachhaltig voranzubringen und DiGAs in der Versorgung zu etablieren. Dann können wir hoffentlich bald und stolz sagen, dass Deutschland das erste Land mit erfolgreich integrierten digitalen Gesundheitsanwendungen in der Regelversorgung ist.“